Ein neues Tangobuch.
Was hat es auf sich mit dem "Bordellreptil" (Leopoldo Lugones),
mit der Kulturschöpfung aus dem "unteren Sozialmilieu"
(Reichardt), die auch heute noch das kulturelle
Identifikationsmerkmal der Menschen am Rio de La Plata darstellt
und zahllose Menschen in aller Welt in ihren Bann schlägt?
Verständlich, dass immer wieder Wissenschaftler und Fachleute
verschiedenster Couleur versuchen, dieser Frage auf den Grund zu
gehen und das "Phänomen" Tango zu analysieren. Aber der Tango ist
"macho" und "stark", sagt schon C.E. Flores in einem seiner
Tangopoeme, und er steht in seiner Dreiheit aus Musik, Text
und Tanz seit hundert Jahren unerschüttert und souverän da.
Die Akteure des Tangos, Tänzer, Musiker, Sänger und Poeten,
leben ihrer Leidenschaft und sind in der Mehrzahl nur am Rande
an der theoretischen Auseinandersetzung beteiligt. Im vorliegenden
Buch sind fünfzehn interessante Beiträge zum Thema (alle
in spanischer Sprache) versammelt. Das Werk ist das Ergebnis
eines dreitägigen Kolloquiums mit illustrer Besetzung, das im
Februar 1997 in Berlin stattgefunden hat. Seinen Titel
verdankt es einer Zeile aus der "Balada para un loco", des
bedeutendsten lebenden Tangopoeten, des Uruguayers Horacio
Ferrer (dem der Rezensent und seine Partnerin die Ehre hatten,
1996 in Montevideo vorgestellt zu werden). Scarlett Winter legt
dieses Gedicht ihrem einsichtsvollen Beitrag über die kommunikativen
und spielerischen Elemente des Tangos zugrunde. Auch Monika Elsner
stellt unter Vorwegnahme eines Teiles ihrer Dissertation den "Dialog
der Füsse" in den Mittelpunkt der Betrachtung. (Die Dissertation
wurde in Nr. 91 von HISPANORAMA ausführlich besprochen). Dass der
Tango am Rio de La Plata auch Spiegel des Lebens schlechthin ist,
belegt Horacio Salas anhand von Tangotexten in seinem Beitrag "El
tango como reflejo de la realidad social".
Ana María Cartolano kommt
zu dem Fazit: "En (las letras de tango) se filosofa sobre nuestros
defectos y virtudes sociales, sobre nuestro sentimiento de orfandad
y ese destino de errar por el mundo llenos de nostalgia". Noemí Ulla
führt in ihrem Beitrag aus, dass viele der herausragendsten
Tangotextdichter erheblich vom Modernismo eines Rubén Darío
beeinflusst wurden. Indes scheint es offensichtlich so zu sein,
dass die Tangotextdichter in weitaus grösserem Masse die Literatur
ihrer Länder zu "préstamos, parodias y reescrituras" angeregt haben,
als dass eine umgekehrte Beeinflussung stattgefunden hätte. Ulla
führt verschiedene Beispiele an, darunter besonders auch "Boquitas
pintadas" von Manuel Puig. Diesen tragikomischen Erfolgsroman analysiert
ausführlich Diana García Simon. Das Werk ist inhaltlich wie ein
melodramatischer Tango und in der Form wie eine "Radionovela", in
Fortsetzungen, aufgebaut. Jeder "Entrega" des Romans ist ein Tangozitat
(meist von Le Pera) vorangestellt, das wie eine Spiegelscherbe das
Geschehen ironisch reflektiert. David Lagmanovich gelangt zu der
Feststellung, die Tangopoeten "producen [...] una ruptura en el tejido
del 'establishment' literario y ofrecen posibilidades de poetización
y de goce estético para millones de oyentes que, desde entonces, le
brindarán fervorosa adhesión".
Walter Bruno Berg spürt dem Tango in
Julio Cortázars genialem 600-Seiten-Opus "Rayuela" nach und stellt
sechs Tangopoeme vor, die Cortázar im Pariser Exil geschrieben
hat. "Desnuda se entregó / cuando mi voz / buscó su piel / bajo la
luna [...]". Dieter Reichardt, der wohl profundeste Tangokenner
Deutschlands, analysiert mit seinem Beitrag "La purificación del
tango", warum in den Erzählungen "Tangos" von Enríque Gonzales
Tuñón,
die grösstenteils auf Tangopoemen basieren, die Gewalt der Messer betont
und die personelle und existentielle Autonomie der Frau wegretuschiert
wird. Die Tango-"Operita" "Maria de Buenos Aires" ist wie die "Balada
para un loco" ein Gemeinschaftswerk von Horacio Ferrer und Astor Piazzolla.
Sie wird von Sonia Alejandra López vorgestellt und erläutert. In den
weiteren Beiträgen stellt Eduardo Romano Beobachtungen zu Textern und
Dichtern zwischen 1915 und 1962 an, Meri Lao schildert humorig einen
Fall von "Tanguitud" in Italien und Blas Matamoro analysiert die
Stellung der Familie im Tango.
Michael Rössner geht der Rolle des
Liedes im Theater ab 1900 bis zu den Filmen von Gardel nach. Für
das Tangolied, el "tango-canción", war die Bühne zunächst lediglich
das Verbreitungsmedium, ohne dass die Lieder irgendeinen relevanten
Bezug zur Handlung gehabt hätten. Erst in den Filmen von Carlos Gardel
wird das Lied zum Ausdrucksmedium für die Gefühle des Protagonisten
und rührt Millionen zu Tränen. Höhepunkt des künstlerischen Ausdrucks
ist hier zweifellos Gardels Hymne "Volver" (Text von Le Pera), die
auch heute noch am Rio de La Plata praktisch jeder auswendig kennt.
Javier González Vilaltellas Vergleiche zwischen Tango und Bolero sind
ebenfalls interessant, aber hier wird mir die singuläre Stellung des
Tangos nicht hinreichend deutlich. Zwischen dem zitierten "Besame,
besame mucho" und "Chorra" liegen nun einmal Welten. Und noch keiner
ist auf die Idee gekommen, von einem "Phänomen Bolero" zu sprechen.
In Musik, Text und Tanz ist der Tango eine Volkskultur auf höchstem
Niveau. Übergänge zur Hochkultur sind in allen drei Teilbereichen
fliessend. Die rigide Trennung zwischen trivial und elitär, Pop und
Klassik ist beim Tango nicht möglich. So müssen wir Europäer (und
insbesondere wir deutschsprachigen) uns eine neue Sichtweise zulegen,
um dem Tango als Kulturerscheinung gerecht zu werden. Wir müssen
anerkennen, dass wir selbst eine Breitenkultur auf solch hohem Niveau
nicht haben. Michael Rössner behandelt diesen Tatbestand im Vorwort
und der Einführung. "(Este libro) trata, por supuesto, del tango como
fenómeno 'total'". "Lo peculiar, lo que impresiona dentro del universo
espiritual argentino es precisamente el hecho de que no podemos abarcarlo
mediante nuestras rígidas categorías ... pero tampoco mediante los
estereotipos norteamericanos."
Eine Auswahl-Bibliographie und Diskographie
runden das Werk ab. Dass darin der uruguayische Bandoneonspieler Hugo
Díaz mit zahlreichen Einträgen unter "Argentinien" eingeordnet ist,
sein Lehrer René Marino Rivero dagegen ganz fehlt, ist nicht Schuld
des Herausgebers; das Verzeichnis stammt vom Berliner Ibero-Amerika-
Institut. Alle Beiträge dieses Buches tragen zum besseren Verständnis
der argentinischen und uruguayischen Literatur und des Tangos bei und
zeugen von der hervorragenden Sachkenntnis der Autorinnen und Autoren.
Dabei ermüdet die Lektüre keineswegs durch dröge Wissenschaftlichkeit ... was
freilich auch am Thema liegen mag. Schliesslich ist das "Phänomen"
Tango keine trockene Materie, sondern pralles Leben mit all seinen
Tiefen und gelegentlichen Höhenflügen (s. Titel) und - wie unsere
eigene Existenz - nicht bis ins Letzte zu enträtseln. Reichardt bringt
es in den ersten Sätzen seines Beitrags auf den Punkt: "En cuanto al
tango, parece que estamos en la vía de comprender su incomprensibilidad
[...]"
© Eckart Haerter, 2001 [Diese Rezension erschien zuerst in HISPANORAMA : Zeitschrift des
Deutschen Spanischlehrerverbandes (DSV), Nr. 94, November 2001]
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