"¡Bailá! ¡Vení! ¡Volá!" : el fenómeno tanguero y la literatura ; actas del coloquio
de Berlin, 13 - 15 de febrero de 1997 / Michael Rössner (ed.).-
Madrid : Iberoamericana ; Frankfurt am Main : Vervuert, 2000. 284 S.
(Bibliotheca Ibero-Americana ; Vol. 79)
ISBN 84-95107-81-3 (Iberoamericana)
ISBN 3-89354-579-4 (Vervuert)

Ein neues Tangobuch. Was hat es auf sich mit dem "Bordellreptil" (Leopoldo Lugones), mit der Kulturschöpfung aus dem "unteren Sozialmilieu" (Reichardt), die auch heute noch das kulturelle Identifikationsmerkmal der Menschen am Rio de La Plata darstellt und zahllose Menschen in aller Welt in ihren Bann schlägt? Verständlich, dass immer wieder Wissenschaftler und Fachleute verschiedenster Couleur versuchen, dieser Frage auf den Grund zu gehen und das "Phänomen" Tango zu analysieren. Aber der Tango ist "macho" und "stark", sagt schon C.E. Flores in einem seiner Tangopoeme, und er steht in seiner Dreiheit aus Musik, Text und Tanz seit hundert Jahren unerschüttert und souverän da.

Die Akteure des Tangos, Tänzer, Musiker, Sänger und Poeten, leben ihrer Leidenschaft und sind in der Mehrzahl nur am Rande an der theoretischen Auseinandersetzung beteiligt. Im vorliegenden Buch sind fünfzehn interessante Beiträge zum Thema (alle in spanischer Sprache) versammelt. Das Werk ist das Ergebnis eines dreitägigen Kolloquiums mit illustrer Besetzung, das im Februar 1997 in Berlin stattgefunden hat. Seinen Titel verdankt es einer Zeile aus der "Balada para un loco", des bedeutendsten lebenden Tangopoeten, des Uruguayers Horacio Ferrer (dem der Rezensent und seine Partnerin die Ehre hatten, 1996 in Montevideo vorgestellt zu werden). Scarlett Winter legt dieses Gedicht ihrem einsichtsvollen Beitrag über die kommunikativen und spielerischen Elemente des Tangos zugrunde. Auch Monika Elsner stellt unter Vorwegnahme eines Teiles ihrer Dissertation den "Dialog der Füsse" in den Mittelpunkt der Betrachtung. (Die Dissertation wurde in Nr. 91 von HISPANORAMA ausführlich besprochen). Dass der Tango am Rio de La Plata auch Spiegel des Lebens schlechthin ist, belegt Horacio Salas anhand von Tangotexten in seinem Beitrag "El tango como reflejo de la realidad social".

Ana María Cartolano kommt zu dem Fazit: "En (las letras de tango) se filosofa sobre nuestros defectos y virtudes sociales, sobre nuestro sentimiento de orfandad y ese destino de errar por el mundo llenos de nostalgia". Noemí Ulla führt in ihrem Beitrag aus, dass viele der herausragendsten Tangotextdichter erheblich vom Modernismo eines Rubén Darío beeinflusst wurden. Indes scheint es offensichtlich so zu sein, dass die Tangotextdichter in weitaus grösserem Masse die Literatur ihrer Länder zu "préstamos, parodias y reescrituras" angeregt haben, als dass eine umgekehrte Beeinflussung stattgefunden hätte. Ulla führt verschiedene Beispiele an, darunter besonders auch "Boquitas pintadas" von Manuel Puig. Diesen tragikomischen Erfolgsroman analysiert ausführlich Diana García Simon. Das Werk ist inhaltlich wie ein melodramatischer Tango und in der Form wie eine "Radionovela", in Fortsetzungen, aufgebaut. Jeder "Entrega" des Romans ist ein Tangozitat (meist von Le Pera) vorangestellt, das wie eine Spiegelscherbe das Geschehen ironisch reflektiert. David Lagmanovich gelangt zu der Feststellung, die Tangopoeten "producen [...] una ruptura en el tejido del 'establishment' literario y ofrecen posibilidades de poetización y de goce estético para millones de oyentes que, desde entonces, le brindarán fervorosa adhesión".

Walter Bruno Berg spürt dem Tango in Julio Cortázars genialem 600-Seiten-Opus "Rayuela" nach und stellt sechs Tangopoeme vor, die Cortázar im Pariser Exil geschrieben hat. "Desnuda se entregó / cuando mi voz / buscó su piel / bajo la luna [...]". Dieter Reichardt, der wohl profundeste Tangokenner Deutschlands, analysiert mit seinem Beitrag "La purificación del tango", warum in den Erzählungen "Tangos" von Enríque Gonzales Tuñón, die grösstenteils auf Tangopoemen basieren, die Gewalt der Messer betont und die personelle und existentielle Autonomie der Frau wegretuschiert wird. Die Tango-"Operita" "Maria de Buenos Aires" ist wie die "Balada para un loco" ein Gemeinschaftswerk von Horacio Ferrer und Astor Piazzolla. Sie wird von Sonia Alejandra López vorgestellt und erläutert. In den weiteren Beiträgen stellt Eduardo Romano Beobachtungen zu Textern und Dichtern zwischen 1915 und 1962 an, Meri Lao schildert humorig einen Fall von "Tanguitud" in Italien und Blas Matamoro analysiert die Stellung der Familie im Tango.

Michael Rössner geht der Rolle des Liedes im Theater ab 1900 bis zu den Filmen von Gardel nach. Für das Tangolied, el "tango-canción", war die Bühne zunächst lediglich das Verbreitungsmedium, ohne dass die Lieder irgendeinen relevanten Bezug zur Handlung gehabt hätten. Erst in den Filmen von Carlos Gardel wird das Lied zum Ausdrucksmedium für die Gefühle des Protagonisten und rührt Millionen zu Tränen. Höhepunkt des künstlerischen Ausdrucks ist hier zweifellos Gardels Hymne "Volver" (Text von Le Pera), die auch heute noch am Rio de La Plata praktisch jeder auswendig kennt. Javier González Vilaltellas Vergleiche zwischen Tango und Bolero sind ebenfalls interessant, aber hier wird mir die singuläre Stellung des Tangos nicht hinreichend deutlich. Zwischen dem zitierten "Besame, besame mucho" und "Chorra" liegen nun einmal Welten. Und noch keiner ist auf die Idee gekommen, von einem "Phänomen Bolero" zu sprechen.

In Musik, Text und Tanz ist der Tango eine Volkskultur auf höchstem Niveau. Übergänge zur Hochkultur sind in allen drei Teilbereichen fliessend. Die rigide Trennung zwischen trivial und elitär, Pop und Klassik ist beim Tango nicht möglich. So müssen wir Europäer (und insbesondere wir deutschsprachigen) uns eine neue Sichtweise zulegen, um dem Tango als Kulturerscheinung gerecht zu werden. Wir müssen anerkennen, dass wir selbst eine Breitenkultur auf solch hohem Niveau nicht haben. Michael Rössner behandelt diesen Tatbestand im Vorwort und der Einführung. "(Este libro) trata, por supuesto, del tango como fenómeno 'total'". "Lo peculiar, lo que impresiona dentro del universo espiritual argentino es precisamente el hecho de que no podemos abarcarlo mediante nuestras rígidas categorías ... pero tampoco mediante los estereotipos norteamericanos."

Eine Auswahl-Bibliographie und Diskographie runden das Werk ab. Dass darin der uruguayische Bandoneonspieler Hugo Díaz mit zahlreichen Einträgen unter "Argentinien" eingeordnet ist, sein Lehrer René Marino Rivero dagegen ganz fehlt, ist nicht Schuld des Herausgebers; das Verzeichnis stammt vom Berliner Ibero-Amerika- Institut. Alle Beiträge dieses Buches tragen zum besseren Verständnis der argentinischen und uruguayischen Literatur und des Tangos bei und zeugen von der hervorragenden Sachkenntnis der Autorinnen und Autoren. Dabei ermüdet die Lektüre keineswegs durch dröge Wissenschaftlichkeit ... was freilich auch am Thema liegen mag. Schliesslich ist das "Phänomen" Tango keine trockene Materie, sondern pralles Leben mit all seinen Tiefen und gelegentlichen Höhenflügen (s. Titel) und - wie unsere eigene Existenz - nicht bis ins Letzte zu enträtseln. Reichardt bringt es in den ersten Sätzen seines Beitrags auf den Punkt: "En cuanto al tango, parece que estamos en la vía de comprender su incomprensibilidad [...]"
 


© Eckart Haerter, 2001 [Diese Rezension erschien zuerst in HISPANORAMA : Zeitschrift des Deutschen Spanischlehrerverbandes (DSV), Nr. 94, November 2001]



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