Monika Elsner:

Das vier-beinige Tier : Bewegungsdialog und Diskurse des Tango argentino.

Frankfurt am Main [u.a.] : Lang, 2000

(Europäische Hochschulschriften : Reihe 24, Iberoromanische Sprachen und

Literaturen ; Bd. 59)

Zugl.: Siegen, Univ., Diss., 1998

ISBN 3-631-36006-1

 

Der Tango ist in der Dreiheit Musik, Text und Tanz das Kulturphänomen vom Rio de La Plata und als solches umgibt ihn immer noch etwas Rätselhaftes. Es verwundert daher nicht, dass schon eine grössere Anzahl von Büchern zum Thema vorliegt. Jetzt ist ein weiteres Buch über den Tango erschienen. Mit ihrer Dissertation „Das vier-beinige Tier : Bewegungsdialog und Diskurse des Tango argentino“ legt Monika Elsner auf über 400 Seiten eine umfassende Analyse des getanzten Tangos vor.

 

Die Autorin stützt sich dabei auf ein Fülle früher erschienener Literatur aber auch auf bislang unveröffentlichte Dokumente, sowie auf Aussagen lebender Tangoexperten und auf Filme. Dabei ist für den Tango-Profi nicht unbedingt etwas Neues herausgekommen. Was das Buch dennoch zu einer ausserordentlich wichtigen Arbeit macht, ist die Tatsache, dass hier praktisch das gesamte theoretische Basiswissen über den getanzten Tango, das jede gute Tangoschule ihren Schülern vermitteln sollte, zum ersten Mal in dieser Vollständigkeit zusammengetragen worden ist. Man könnte Elsners Werk als Lehrbuch für den theoretischen Tangounterricht benutzen.

 

Wie, zum Beispiel, wurde der Tango (nach dem berühmten Ausspruch des Tangotextdichters Enrique Santos Discépolo) zum „traurigen Gedanken, den man tanzen kann“ ? Es muss wohl so etwas wie ein kollektives „tragisches Lebensgefühl“ geben, das der amerikanische Schriftsteller und Südamerikakenner Waldo Frank erspürt hat. Im Portugiesischen heisst das o gosto de ser triste, die Lust am Traurigsein, die im Fado ihren Ausdruck findet. In Argentinien und Uruguay ist es der Tango, „diese ungeheure Lust zu weinen, die uns manchmal überflutet ohne Grund“, wie es in einem Tangopoem von Homero Manzi heisst. Zur Frage nach dem Warum dieser melancholischen, nach rückwärts gewandten Grundstimmung im argentinischen Tango führt die Autorin eine Reihe interessanter Aspekte an. Elsner ist sich durchaus darüber im klaren, dass es Dinge gibt, die nicht bis ins Letzte erklärbar sind. Das trifft auch für die Choreographie des Tangos zu (das Wort meint hier die Gesamtheit der möglichen Bewegungen, Schritte und Figuren). So könne man die Choreographie zwar mit Worten beschreiben, sollte sich aber mit Deutungsversuchen eher zurückhalten. Sie lässt dazu den Uruguayer Daniel Vidart zu Wort kommen, der sich schon in den 60er Jahren gegen Tangoschwadroneure und Theoretisierer gewandt hat: „Dann erschienen die Essayisten, die Koryphäen, die Enträtseler von Wahrheiten, um seinen Sinn offenzulegen und seine Beweggründe zu deuten.“

 

Der Tango ist ein „getanzter Dialog zwischen Mann und Frau“, den die Tanzpaare improvisierend, mit nicht vorher festgelegten Schrittfolgen, in immer neuen Variationen auf der Tanzfläche darstellen. Er muss vor allem selbst erlebt, selbst erfahren werden; körperlich, seelisch, mit allen Sinnen, um ihn schliesslich doch mehr intuitiv als intellektuell zu begreifen. Die Autorin ist in der Lage, bei ihrer Arbeit auch auf eigene Erfahrungen zurückgreifen zu können (unerlässlich für ein solches Werk!). Laut eigener Aussage ist sie von ihrem Lehrer Klaus Wendel zu einer „passablen Tangotänzerin“ ausgebildet worden.

 

Elsner hat daher selbst erlebt, dass der getanzte Dialog des Tangos nur zustande kommen kann, wenn Mann und Frau sich in einem ständigen sensiblen Körperkontakt zueinander befinden. Es ist der Mann, der den Fortgang des Tanzverlaufs initiiert und durch seine Körpersprache der Frau übermittelt. Bezeichnenderweise heisst am Rio de La Plata diese Zeichengebung nicht „Führen“ sondern La Marca. Und die Frau „folgt“ nicht, sondern sie antwortet seinem Marcar durch ihr Responder. Dabei muss der Mann mit seinem Körper den Bewegungen der Frau ebenso konzentriert „lauschen“, wie die Frau den Bewegungen des Mannes. Denn wenn er nicht in jedem Augenblick des Tanzgeschehens sicher spürt, welche Schrittkombinationen oder welche Figuren als nächste überhaupt möglich sind, dann kann seine Marca fatale Folgen haben. So ergibt sich bei einem guten Tangotanzpaar eine Übereinstimmung und Harmonie, die das eigentliche Geheimnis des getanzten Tangos ausmacht. Jener wortlose Dialog zur Musik, der solche Glücksgefühle auszulösen vermag, dass Juan Carlos Copes, der berühmteste und beste Tangotänzer der letzten fünf Jahrzehnte, während des Tanzens vor Ergriffenheit weinen konnte.

 

Eine schöne und zutreffende Beschreibung liefert dazu der deutsch-uruguayische Tangolehrer Juan D. Lange: „Der Tango lehrt uns, dass Mann und Frau allein unvollkommen sind und unentwegt einander suchen. Nur zusammen sind sie vollkommen. Der Tango idealisiert diese Beziehung.“

 

Der Tango ein Macho-Tanz? Gewiss nicht, auch wenn er das in seinen ersten Anfängen einmal war, als der Mann sich der Frau als „Instrument“ bediente, um so seine „Grossartigkeit“ zu zeigen (wozu natürlich nur die besten Tänzerinnen in Frage kamen!). Doch war auch damals das Machobild schon eine fragwürdige Angelegenheit, wenn es so sehr vom tänzerischen Können einer Frau abhängig war. Dass manche unkundigen Zuschauer auch heute noch etwas Machistisches am Tango zu erkennen glauben, mag an der geschlechtsspezifischen Art der Tangobewegungen liegen. Im Tango ist der Mann ein Mann und die Frau ganz Frau. Mit deutlichem Einsatz der Hüften unter dem geschlitzten Kleid (notwendig für den Bewegungsspielraum!) bewegt sie sich vor dem Mann und um ihn herum, während er ständig versucht, mit gestrecktem Bein (Symbolik!) über erhöhtem Absatz (historisch: Taco militar) in ihren Bewegungsraum einzudringen. Ein faszinierend erotisches und ästhetisches Spiel, das aber nicht weniger weibliche als männliche Züge aufweist. „Was sich zwischen dem Paar abspielt, ist etwas ganz anderes als man sieht“, sagt dazu Pablo Veron, einer der Tangotänzer-Stars unserer Zeit.

 

Für die Porteños (die Einwohner von Buenos Aires), genauso wie für die Bewohner Montevideos, stellt der Tango das kuturelle Identifikationsmerkmal dar. Für sie ist der Tango ein Synonym für Heimat. Viele Tangotexte handeln von vergangenen, (nicht immer) glücklicheren Zeiten im verlorenen Stadtviertel. Barrio de Tango, luna y misterio. Calles lejanas, donde estarán? (Homero Manzi). Hier kennen selbst Nichttänzer die berühmten Texte meist auswendig. Es gibt das Wort: La Historia de Buenos Aires es la historia del Tango. Die Geschichte der argentinischen Hauptstadt gespiegelt in der Geschichte eines Tanzes, seiner Musik und seiner Texte. Und was für Buenos Aires gilt, gilt gleichermassen für die uruguayische Hauptstadt Montevideo. In beiden Städten wurde der Tango zeitgleich vor etwa 120 Jahren geboren, wie die Verfasserin in einer Fussnote richtig anmerkt.

 

Trotz ihrer Sachkenntnis geht Monika Elsner einige wenige Male ihren Informationslieferanten auf den Leim. So ist ganz offensichtlich der Porteño-Stolz mit Eduardo Arquimbau durchgegangen, wenn der weltberühmte Tänzer (unwidersprochen) mit der Behauptung zitiert wird, dass die Porteños schon von Geburt an eine bestimmte Art zu gehen hätten. Eben das Caminar, das europäischen Schülern so überaus mühsam beigebracht werden muss. Hier rebelliert schon der gesunde Menschenverstand. Wer aber (wie der Rezensent) nicht nur einmal argentinische SchülerInnen im Tangotanzen zu unterrichten hatte, weiss, dass diese sich auch nicht einen Deut geschickter anstellen als ihre europäischen MitschülerInnen. Warum sollten sie auch? Schliesslich schaukeln die Babies in Wien auch nicht im Hmm-ta-ta-Rhythmus in ihren Wiegen. Dass auch zwei namhafte Deutsche (eine Tangolehrerin, ein Tangolehrer) mit „Tangolatein“ zu Wort kommen, soll hier nicht näher präzisiert werden. 

 

Weniger leuchtet mir ein, dass Monika Elsner ein Viertel ihres Buches der Tangorezeption in Europa (vor allem in Paris und Berlin) in der Zeit von 1907 bis in die 20er Jahre widmet und diese mit derselben Sachlichkeit abhandelt wie die anderen Kapitel. Die edle Volkskunst der Menschen am Rio de La Plata wurde im Europa der „Décadence“ zunächst von der Schickeria, später vom breiten amüsierwilligen Bürgertum mit johlender Begeisterung aufgenommen. Der Tango hatte buchstäblich noch gefehlt. Von seriöser Tangopflege kann in jener Zeit keine Rede sein, selbst wenn es Tanzpaare gab, die die Parodie virtuos beherrschten. Alle Tangobilder von damals, Fotos und Zeichnungen, mit den ulkigen Posen und den unglaublich blasierten Gesichtern sprechen eine eindeutige Sprache. Drei dieser Bilder hat Elsner in ihr Buch aufgenommen. Tango war ein grosser Jux und folgerichtig dauerte es nur wenige Jahre, bis er in Europa zu einem grotesken Zerrbild verkommen war, um schliesslich in der Verballhornung des Standard-Tangos zu erstarren. (Die Texte standen der getanzten Parodie übrigens in nichts nach: „Sswei rotte Liippen und ein rotter Tarragona, das ist das schönnste in Barcelona ...“ ).

 

Der Wert der übrigen Kapitel wird durch diesen Exkurs natürlich nicht beeinträchtigt. Obwohl die Wissenschaftssprache das Buch stellenweise zu einer sperrigen Lektüre macht, sei es all denjenigen wärmstens empfohlen, die sich einen tiefergehenden Einblick in die Geheimnisse des Tangos verschaffen wollen. Mit seinem Schatz an Zitaten und Erkenntnissen ist das Werk das beste über den getanzten Tango, das ich bisher in deutscher Sprache gelesen habe. Zudem kann es sicher so manchem Tangolehrer zu einem fundierteren Unterricht verhelfen.

 


© Eckart Haerter, 2000 [Diese Rezension erschien zuerst in HISPANORAMA : Zeitschrift des Deutschen Spanischlehrerverbandes (DSV), Nr. 91, Februar 2001]
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